Öffnungszeiten

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Sa 13–18h
So u. Feiertags 11–18h


Eintritt frei!

Die Künstlerin Anna Witt beschäftigt sich mit sozialen Verhaltensweisen in einer Unmittelbarkeit und Intensität, die kaum mit anderen künstlerischen Positionen zu vergleichen ist. In der Videoinstallation „Radikal Denken“ animiert sie z. B. Menschen in einer Einkaufspassage, einen radikalen Gedanken zu äußern. Ein generelles Umdenken könnte man dementsprechend als eine Intention ihrer künstlerischen Praxis bezeichnen. Ihr widmet der Kunstverein Wolfsburg in diesem Jahr eine Einzelausstellung.

Auch die Digital Art verändert gegenwärtig ihren Blick. Sie will nicht mehr nur die ästhetischen Potentiale neuer Technologien erkunden, sondern diese nutzen, um tradierte ästhetische Vorstellungen zu überprüfen und dabei subversiv zu operieren. Der Dadaismus war eine Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts, welche allgemeine Konventionen der Kunst auf den Kopf stellte. Sie markierte einen Neubeginn in viele Richtungen, wie Objektkunst, Ready-made, Fotocollage, Lautgedicht etc. Inzwischen ist die Arbeit mit digitalen Medien ebenfalls an einen Punkt gelangt, der ein Umdenken markiert und frühere Vorstellungen in Frage stellt. Digital Dada versammelt künstlerische Werke dieser Tendenz.

Ein radikales Umdenken gegenüber Kulturgütern aus ehemaligen Kolonien ist in den letzten Jahren zu beobachten. Es führte u. a. am 17.12.2020 in Frankreich zu einem neuen Gesetz, dass die Rückgabe von Raubgut aus französischen Sammlungen an die Republiken Benin und Senegal ermöglicht. In Frankreich und vor kurzem auch in Deutschland hat der Prozess der Restitution bereits begonnen. Zwanzig Benin-Bronzen brachten Außenministerin Annalena Baerbock und Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth im Dezember 2022 in ihre Heimat Nigeria zurück. Die Restitution ist längst überfällig, aber immerhin folgen erstmals Taten nach einer langen Phase ablehnender oder unverbindlicher Äußerungen. Die beginnende Restitution bildet den Anlass für das Ausstellungsprojekt Coming Home. Das Ende kolonialer Phantasmen.

Die Eröffnung des Humboldt-Forum in Berlin im Jahr 2021, in dem sich das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst befindet, war mit Protesten gegenüber der Aufbewahrung von Raubkunst verbunden und löst bis heute heftige Debatten über den Umgang mit nach Deutschland verfrachteten Kulturgütern aus der Zeit der Kolonialgeschichte aus. Die Raubkunst-Debatte hat das Verhältnis zwischen Europäer*innen und den Werken aus dem globalen Süden grundlegend verändert. Das Ende kolonialer Phantasmen scheint unumkehrbar. Die Rezeption dieser Werke kann nicht mehr ohne den Kontext ihrer Beschaffung betrachtet werden.

Immer mehr bildende Künstler*innen beschäftigen sich inzwischen mit den kolonialen Interessen und der kulturellen Überheblichkeit der europäischen Staaten. Einzelne Aspekte der kolonialen kulturellen Ausbeutung werden in der Ausstellung „Coming home. Das Ende kolonialer Phantasmen“ thematisiert.

Nick Schamborski, Preisträger*in des Bundespreis für Kunststudierende 2021, weist in einem Kurzfilm auf das Kolonialdenkmal in Braunschweig hin, das kommentarlos in der Stadt existiert, obwohl es in den 1920er Jahren errichtet wurde, um für die Wiedererlangung der deutschen Kolonien zu plädieren. Schamborski testet in einem im Tutorial-Stil gedrehten Video vermeintlich eine neue Fotobearbeitungs-App aus, um mögliche Veränderungen an dem Monument vorzunehmen.

Die koreanische Künstlerin Hyejeong Yun beschäftigt sich mit der Kolonialisierungsgeschichte Asiens. Ausgehend von einem gefundenen Foto einer Elefantendressur in London geht sie der Frage nach, wie Elefanten nach Großbritannien kamen. Mit dem daraus entstanden Video entwirft die Künstlerin eine Kolonialgeschichte des British Empire, in der auch die Faszination an „exotischen“ Tieren eine Rolle spielt.

Der nigerianische Künstler Gerald Chukwuma verwendet weggeworfene Dosen und Holzpaneele, die er mosaikartig mit zerschnittenem Metall bearbeitet. „The Gentleman’s Story“ bezieht sich auf eine alte Geschichte aus Nigeria, in der die Einwohner*innen auf ein Schiff verladen und versklavt werden sollten, sich jedoch allesamt für den Freitod auf offenem Meer entschieden. Seine Arbeiten „Oru Oyibo“ und „After“ gehören zur Werkgruppe „Ikwokirikwo“, mit der an eine zeremonielle Tanzperformance der Igbo erinnert wird, die in Nigeria allmählich aus dem Gedächtnis verschwindet.

Der Hamburger Performancekünstler Holger Steen verwendet Briefmarken der früheren deutschen Kolonien, um sich in dem Projekt „Edvin Adlers Kleine Philatelie“ (Performance und Ausstellung) mit den Hintergründen dieser Phase der Ausbeutung, Misshandlung und Ermordung von Menschen in den deutschen Kolonien künstlerisch auseinanderzusetzen.

Nachhaltigkeit spielt schon seit Jahren im Bereich der bildenden Kunst eine wichtige Rolle. Mit der Ausstellung „Erneuerbare Medien“ griff der Kunstverein Wolfsburg bereits im Jahr 2020 ein Thema auf, das sich mit erneuerbaren Energiequellen in Zusammenhang mit technischen Medien im Bereich der Kunst beschäftigte. Inzwischen hat sich die Lage in Europa mit dem Krieg in der Ukraine und der damit entstandenen Energiekrise wesentlich verschärft. Gegenwärtig wird zum Energiesparen in Unternehmen und Privathaushalten aufgerufen. Gleichzeitig gilt es, auf die Erhaltung vorhandener Ressourcen zu achten und sie nicht unnötig zu verschwenden. Wenigen ist bewusst, wie knapp Wasser durch den Klimawandel auch in Deutschland geworden ist – und wie wichtig es deshalb ist, Wasser zu sparen. Viele Gemeinden und Städte wie z. B. Frankfurt am Main haben deshalb Initiativen entwickelt und fordern dazu auf, behutsam mit dem kostbarem Gut Trinkwasser umzugehen. Ebenso wichtig erscheint es, auf die Reinhaltung des Wassers zu achten. Insbesondere Kunststoffe belasten die Qualität des Wassers. (Mikro-)Plastikteile verseuchen zunehmend den gesamten Wasservorrat der Erde. Aber auch der Umgang mit Müll oder mit dem, was vermeintlich als Müll angesehen wird, muss sich ändern. Die Möglichkeit des Recycling oder der Reparatur sollte viel mehr in Betracht gezogen und genutzt werden. Phänomene wie Fast Fashion müssen zurückgedrängt werden.

Der Kunstverein Wolfsburg präsentiert in der Ausstellung Saving verschiedene künstlerische Positionen, die unterschiedliche Aspekte der Thematik des Sparens repräsentieren.

Aus Plastikmüll produziert der ghanaische Künstler Rufai Zakari seine Werke, meist Porträts von Personen. Er wäscht und trocknet den gesammelten Plastikmüll, schneidet ihn zu und näht ihn sorgfältig zusammen. Seine Upcycling-Arbeiten sind inzwischen international anerkannte Kunstwerke.

Afrika ist der Kontinent, in den westliche Nationen bevorzugt ihren Müll transportieren. Dieser skandalösen Tatsache hat sich Nana Petzet angenommen, u. a. in dem Projekt “Paralyzed by the Recycling Paradise” über die Müllverwertung in Addis Abeba in Äthopien. Petzet dokumentierte in Zusammenarbeit mit den äthiopischen Künstler*innen Helen Zeru und Tesfahun Kibro die Recyclingabteilung des „Mercato“, eines großen Markts im Zentrum der Stadt. Sie legte eine Sammlung von mehr als 50 beispielhaften Recyclingobjekten an und erfragte zu jedem erworbenen Gegenstand Provenienz, Herstellungszeit und Funktion. Nana Petzet gilt in Deutschland als die Künstlerin, die sich am intensivsten mit dem Thema Müllverwertung und Kunstproduktion beschäftigt, nicht zuletzt in ihrem langjährigen Projekt „SBF-System“ – SBF steht für Sammeln, Bewahren, Forschen.

Mit weggeworfenem DDR-Mobiliar arbeitete immer wieder die Berliner Künstlerin Inken Reinert. Für den Kunstverein Wolfsburg schuf sie 2010 ein Mehrzweckmobiliar mit Theke, Regale und Sitzmöglichkeiten aus einem DDR-Wandelemente-System. Mit vergleichbaren Möbelelementen wird sie raumbezogen eine neue Installation im Kunstverein Wolfsburg produzieren.

Daniele Lauriola vom Wolfsburger Netzwerk institut für zukünfte setzt sich in seiner Installation für ein Umdenken in unserem Verhalten ein, eines, das weitgehend von ökonomischen Faktoren geprägt ist. Lauriola engagiert sich für nachhaltige Praktiken, die den Klimawandelt aufhalten sollen. Für die Ausstellung im Kunstverein Wolfsburg konzipiert er eine Rauminstallation, die einen Einstieg in die komplexe Thematik von nach haltigem Leben und der Suche nach Strategien „for earthly survival“ bieten und Prozesse der Selbstreflektion anregen möchte.

„Je mehr wir wissen, desto weniger scheinen wir weiter-zu-wissen“

Bernhard von Mutius

Nach Jahren der Zukunftsverheißungen ist Ernüchterung eingetreten, nicht zuletzt durch eine pandemische Entwicklung, die fast niemand vorhersah. Trotz neuer Kommunikationsstrukturen und Informationstechnologien sind wir augenscheinlicher nicht intelligenter geworden. Im Gegenteil, wir scheinen auf verschiedene Katastrophen zu zu rasen und es ist uns nicht gelungen, die Welt solidarischer und friedfertiger zu machen. Die Kunst kann unserer Meinung nach helfen, gesellschaftliche Prozesse in neue Bahnen zu lenken. Sie ist in der Lage, unabhängig von vorhandenen ökonomischen Grundstrukturen innovative Ideen zu entwickeln und Verbindungen herzustellen.

Die bildende Kunst liefert – und das ist eine ihrer wichtigen Aufgaben – nicht selten die Vorstellung von einer nahen und fernen Zukunft. Sie vermittelt Visionen, die sich im Unterschied zur Science Fiction nicht auf technische Entwicklungen konzentrieren, sondern vielfältiger und umfassender konstituiert sind. Meist wird es dabei den Rezipient*innen überlassen, ob diese Darstellungen der Zukunft als Utopien oder Dystopien zu betrachten sind.

Der deutsche Philosoph Ernst Bloch schreibt in seinem Aufsatz „Geist der Utopie“ (1973) der Kunst die Fähigkeit eines produktiven Ahnens zu und unterscheidet sie damit von anderen Formen des Voraussehens: „Und auch die Phantasievor-stellungen sind hier nicht solche, die sich aus Vorhandenem lediglich zusammensetzen, […] sondern die Vorhandenes in die zukünftigen Möglichkeiten seines Andersseins, Besserseins antizipierend fortsetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloßer Phantasterei eben dadurch unterscheidet, dass nur erstere ein Noch-Nicht-Sein erwartbarer Art für sich hat, das heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern ein Real-Mögliches psychisch vorausnimmt.“ Die Werke der Ausstellung „voraussehen“ schwelgen nicht in Spekulationen und irren nicht in Phantastereien ab, vor denen Ernst Bloch warnt, sondern weisen mit den Mitteln der bildenden Kunst auf mögliche Zukünfte hin, erforschen, wie sich gegenwärtige Phänomene weiterentwickeln und damit neue urbane Landschaften und soziale Situationen entstehen könnten. Sie bieten Ausblicke in eine veränderte Welt, in der sich Menschen in vielleicht nur wenigen Jahren zurechtfinden müssen. Diese Werke sind dabei nicht an Ideologien gebunden, sie sind in ihrem Kern offen: Auch in der Überlegung, ob die Zukunft eine Verbesserung oder Verschönerung oder aber eine negative Entwicklung mit sich bringen wird.

In diesem Spannungsfeld verortet sich „voraussehen“: Die internationale Gruppenausstellung versammelt Positionen, welche mit künstlerischen Mitteln Voraussagen in verschiedenen Bereichen wie Urbanistik, Klima oder Mobilität treffen. Die vier Künstler*innen liefern dabei keine auf Messungen basierende Prognosen, sondern erzeugen immersive Atmosphären der Zukunft. Es geht ihnen in erster Linie um eine emotionale Vermittlungen futuristischer Situationen.

Die koreanische Künstlerin Yeojin Song präsentiert in ihrem Animationsfilm „The City“ die Metropole der Zukunft als Wucherung von monotonen Hochhausbauten, die sich immer mehr auszubreiten scheinen. Ani Schulze führt uns in eine Welt zwischen Science Fiction und Rückfall in archaische Zeiten. Auf eindrucksvolle Weise bringt sie strukturelle gesellschaftliche Flexibilität und dystopische Momente in den unterschiedlichsten Medien zusammen. Mit skulpturalen Gebilden und Projektionen lässt uns Yoni Hong futuristische Stadtlandschaften erleben. Nike Kühn bezieht sich mit ihrer Installation „Safe House“ auf die Praxis und Gedankenwelt der Prepper, die für eine kommende Katastrophe vorbereitet sein wollen.

Die von Tamiko Thiel geschaffenen digitalen Welten sind nicht nur verspielte, fantastische Landschaften, sondern finden ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich wichtigen Themen; als Reaktion auf historische politische Ereignisse oder auf kritische ökologische Entwicklungen. Die Aspekte der Interaktion oder Partizipation werden zu Recht als zentrale Potentiale programmierter Kunstwerke angesehen, gleichzeitig bieten die digitalen Technologien die Möglichkeit, den weiblichen Körper neu zu interpretieren oder über grundlegende Prozesse der menschlichen Existenz zu reflektieren.

Theoretisch und politisch unterstützt von der aufkeimenden Bewegung des Cyberfeminismus und selbst mit einem technischen Hintergrund – einem B.S. in Product Design Engineering in Stanford (1979) und einem M.S. in Mechanical Engineering am M.I.T. (1983) – wandte sich Tamiko Thiel 1991 nach Abschluss ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in München der Medienkunst zu.

In ihrer retrospektiven Einzelausstellung Diverse Realities im Kunstverein Wolfsburg versammelt die amerikanische Künstlerin japanisch-deutscher Abstammung nun Werke aus allen Jahrzehnten ihrer künstlerischen Laufbahn, von ihrer ersten Videoarbeit 1991 bis hin zu ihren jüngsten Virtual-Reality-Arbeiten, darunter auch einige größere Produktionen, die in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen entstanden sind.
Mit Arbeiten wie „Lend Me Your Face!” (2020, mit /p), “Unexpected Growth” (2018, mit /p) oder “Virtuelle Mauer/ReConstructing the Wall” (2008, T+T – Tamiko Thiel und Teresa Reuter) zählt Thiel heute zu den herausragendsten zeitgenössischen Künstler*innen, die gesellschaftsrelevante Themen mit innovativen Formen der digitalen Kunst verbinden.

Die Ausstellung Diverse Realities findet als Kooperationsprojekt und im Kontext der globalen Überblicks-Schau Empowerment des Kunstmuseum Wolfsburg statt.

Endlich ist wieder Zeit für den arti! Alle zwei Jahre vergibt der Kunstverein Wolfsburg den hauseigenen Kunstpreis an Künstler*innen, deren Lebensmittelpunkt und Wohnsitz in Wolfsburg liegt. 2022 liegt der Fokus des Kunstve

reins im Zuge seines traditionellen Jahresthemas auf der künstlerischen Auseinandersetzung mit Relevanz – Endlich relevant! lautet es, nicht ganz ohne Seitenblick auf die anhaltende Pandemie und die Verluste und Erfahrungen, die wir aus dieser Zeit ziehen (werden). Wie auch die letzten Male knüpft das Wettbewerbsthema inhaltlich an das Programm an und trägt in diesem Jahr den Titel sichtbar machen. In gewisser Weise begegnen wir auch in einer Pandemie der Begrenztheit des Sehens. Wir können beispielsweise mit bloßem Auge keine Viren erkennen. Die Kunst muss jedoch nicht abbilden, was mit den Augen wahrgenommen wurde. Sie kann uns aber dazu bringen, Dinge neu und anders zu betrachten. Etwas, was den Menschen emotional bewegt und gedanklich beschäftigt, kann in künstlerischen Arbeiten sichtbar gemacht werden. Wie immer kann das Thema des arti völlig frei interpretiert werden. Um am Wettbewerb teilzunehmen, müssen die Teilnehmer*innen nicht Kunst studiert haben: Einzig ihr Lebensmittelpunkt und Wohnsitz muss in Wolfsburg liegen.

Die Ausstellung im Kunstverein Wolfsburg zeigt die Arbeiten der Nominierten, die zuvor von einer überregionalen Jury aus allen Einreichungen ausgewählt wurden. In diesem Jahr bestand die Jury aus Barbara Hofmann–Johnson (Leiterin des Museum für Photographie Braunschweig) Sina Heffner (Künstlerin und Dozentin, Braunschweig) Rui Zhang (Künstlerin, Hannover) Aline Hernandéz (Kuratorin, Mexico City, Curator in Residence, niki hannover) und Dr. Justin Hoffmann (Leiter des Kunstverein Wolfsburg). Im Zuge der feierlichen Eröffnung mit Preisverleihung wurden die drei Gewinner*innen des Wettbewerbs gekürt. Wir gratulieren Anita Marijana Bajic (1.Preis), Jörg Hennings (Zweitplatzierter) und Daniele Lauriola (3.Preis) ganz herzlich.

Ausstellungsbegleitend erscheint ein Katalog.

 

 

In Experimenten und Testungen operiert man in Systemen, die auch für ein Scheitern offen sind. Dieses Zulassen von Scheitern bietet die Möglichkeit Neues, noch Unbekanntes zu entdecken und somit über das Tradierte und Konventionelle hinauszugehen. Die Option des Scheiterns bedeutet also letztlich nicht nur ein Versagen, einen Rückschritt in Visionen und Praktiken, sondern enthält als experimentelle Anordnung unbedingt auch die Chance des Fortschritts. Hans-Jörg Rheinberger widmet sich in seinem kürzlich erschienenen Buch „Spalt und Fuge. Eine Phänomenologie des Experiments“ der wissenschaftlichen Methode des Experimentierens: „Umso erstaunlicher ist es, dass sich Philosophie und Geschichte der Wissenschaften mit der unglaublichen Vielgestaltigkeit des Experimentierens kaum auseinandergesetzt haben.“ Das Gleiche gilt sicherlich auch für das Experimentieren und Forschen in der bildenden Kunst, das nicht zuletzt auf Leonardo da Vinci als prominenten Vertreter zurückzuführen ist. Künstler*innen und naturwissenschaftliche Forscher*innen verbindet die Neugier und eine besondere Form der Kreativität.

Eine Wissensproduktion unabhängig des hegemonialen anerkannten Wissens ist eine Intention, die allen Künstler*innen der Ausstellung „Kunst forscht“ gemeinsam ist und deren Titel eine Referenz auf „Jugend forscht“, dem bekannte Schüler- und Jugendwettbewerb im Bereich Naturwissenschaften, bildet. Die israelische Künstlerin Liat Grayver bedient sich beispielsweise in der Herstellung ihrer Gemälde und Zeichnungen der intensiven Korrespondenz mit Robotern. Mit den Transformationsmöglichkeiten der menschlichen Stimme experimentiert die Berliner Künstlerin und Musikerin Katharina Hauke. Sie entwickelt dazu eine Apparatur, die sie als MikroKontrolleur bezeichnet. Mit physikalischen Phänomenen verschiedener Art beschäftigt sich der Chemnitzer Künstler Martin Lucas Schulze. Dabei entsteht, wie er formuliert, eine alternative Wissensproduktion, in der er unter anderem Funktionsstrukturen von Verfallsprozessen sichtbar machen möchte. Aus der systematischen Beobachtung von klimatischen Veränderungen gewinnt der Schweizer Künstler Marcus Maeder seine künstlerischen Arbeiten, die sich in der Regel als multimediale Installationen realisieren.

 

Leben und Tod werden heute in Elektronenmikroskopen verhandelt, und die Ergebnisse dieser Untersuchungen mit dem heutigen Potenzial von Grafik- und Animationsprogrammen visualisiert. Die Mikro- und Nanoebenen besitzen ihre eigenen von Computern gesteuerten Bildsprachen. Diese liefern Modelle um Prozesse, die im Inneren der Körper ablaufen, zu veranschaulichen. Der medizinische Blick geht unter die Haut. Die Hautoberfläche erscheint in diesem Zusammenhang als nur eine von mehreren Repräsentationsmöglichkeiten von Lebewesen. Die Sehapparate der bildgebenden, medizinischen Diagnostik machen verborgene Bestandteile in Echtzeit sichtbar und geben uns neue Einblicke in die menschliche Existenz. Künstliche Intelligenz wird die Diagnostik von Krankheiten, insbesondere in der Auswertung medizinischer Bildaufnahmen, deutlich verbessern. Operationen werden von Ärzten heute in der Regel computerunterstützt durchgeführt. Digitalisierung und KI haben die Medizin voll erfasst.

Die Pandemie hat dazu geführt, dass Bilder der Wissenschaft zum festen Bestandteil der Alltagskultur geworden sind. Jeder Mensch weiß inzwischen, wie ein Virus aussieht. Das Covid 19-Virus wurde zum einem Internet-Meme, das in unendlich vielen Varianten auftaucht und bearbeitet wurde. In seiner Bildpraxis bedient sich die Naturwissenschaft besonderer Darstellungsformen und Technologien (MRT, Röntgenstrahlen etc.). Der Arzt von heute führt seine professionellen Handlungen häufig in Kombination von Screens und virtuellen Bildern durch, gerade auch bei Operationen am menschlichen Körper. Zudem hat die Zahl der Berichte über wissenschaftliche Erkenntnisse in den Informationskanälen immens zugenommen. Virologen avancierten mit Hilfe der Medien zu populären Persönlichkeiten, die politische Entscheidungen und damit unsere Alltagspraxis stark beeinflussen.

Auch Künstler*innen greifen vermehrt Motive der wissenschaftlichen Bildwelt auf. Die Resultate der Sehapparate bzw. die Fotos, Grafiken und Modelle, die sie produzieren, faszinieren Künstler*innen und werden Teil ihrer ästhetischen Praxis. Verbindungen zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und bildender Kunst werden hergestellt.

Mit Aspekten der medizinischen Forschung vom menschlichen Individuum beschäftigt sich die Berliner Künstlerin Theresa Schubert und hinterfragt dabei die Fleischindustrie, ja die Grenze von Tier und Mensch. Die Koreanerin Sabina Hyoju-Ahn gewinnt akustische Signale aus Biomaterial und transformiert diese in eine sphärische Sound-Installation. Der Blick unter die Haut von Tieren kennzeichnet die Werke von Anna Miethe und mündet in Animationsfilme und Fotografien. Netzartige Strukturen, die an naturwissenschaftliche Bilder von DNA-Strängen, Synapsen oder MRT-Bilder erinnern, bilden die Grundlage der künstlerischen Praxis von Anna-Maria Meyer, die in den verschiedensten Medien arbeitet.

 

Rui Zhangs künstlerisches Werk reicht von komplexen Malereien und Mixed Media über Siebdruck bis hin zu digitaler Animation. Sie verknüpft autobiografische Erinnerungen aus der Kindheit mit mythologischen Erzählungen oder den Medien entlehnten populären Motiven und erschafft eine surreale, magisch-realistische Welt, die die wachsende Fragmentierung der Gesellschaft der persönlichen Identitätssuche gegenüberstellt. Realität und Illusion, Normalität und Anormalität, alte und neue Medien, Wahrheit und Lüge verwischen sich in ihren kontrastreichen, ambivalenten und mehrdeutigen Bildwelten.

Nach einem Bachelor of Arts an der CAFA Peking begann Rui Zhang ein Studium der Freien Kunst an der HBK Braunschweig, welches sie 2018 als Meisterschülerin bei Prof. Wolfgang Ellenrieder abschloss. Der Kunstverein Wolfsburg zeigt unter dem Titel Wonderful Talking Machine eine Auswahl ihrer aktuellen Arbeiten.

 

Die Ausstellung wird freundlicherweise gefördert von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg, der Stadt Wolfsburg und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.